Realismus

Aus ZUM-Unterrichten

Bürgerlicher Realismus

Stilbegriff und literarischer Epochenbegriff für die Zeit von 1848 bis 1880/90 […] Als Epochenbegriff entspricht R. dem Selbstverständnis des nachrevolutionären bürgerlichen Zeitalters und seiner nationalstaatlichen und naturwissenschaftlichtechnischen Orientierung. Ausgangspunkt für die Programmatik des R. war die Ablehnung der Literatur des Jungen Deutschland und des Vormärz und ihrer sog. subjektiven Reflexionspoesie ohne Basis in der Wirklichkeit. Dagegen wurde die Forderung nach einer Darstellung ›objektiver‹, geschichtlich begründeter sittlicher Verhältnisse erhoben, für die trotz der gescheiterten bürgerlichen Revolution der Boden bereitet sei: Auch ohne die politische Selbstbestimmung sei das Bürgertum dank seiner sittlichen Überlegenheit, die bereits das private und wirtschaftliche Leben durchdringe, auf dem Weg zur politischen Macht. Insofern biete die dt. Wirklichkeit die Grundlage für eine objektive Literatur und Kunst. Hauptorgan des programmatischen R. war die von Gustav Freytag und Julian Schmidt herausgegebene Zeitschrift Die Grenzboten (1842–1922). Die Forderung nach ästhetischer Objektivität gilt allerdings nur mit einer bezeichnenden, in der idealistischen Grundlage des bürgerlichen R. angelegten Einschränkung: Die Kunst habe zwar die Erfahrungswirklichkeit und ihre Widersprüche darzustellen, aber sie müsse zugleich auch ›verklären‹ […] Zu den wichtigsten konkreten poetologischen Forderungen des R. gehören: Vermeidung rhetorischer Prinzipien, etwa des Allegorischen oder Tendenziösen, ›Verklärung‹ des Alltags und Verwendung des mittleren Stils, Stoffe aus dem Bereich des handel und gewerbetreibenden Bürgertums, Prosa, zurückhaltende, ›objektive‹ Erzählergestalt in Novelle, Erzählung und Roman. Im R. spielen Drama und Lyrik nur eine untergeordnete Rolle. Erzählende Gattungen dominieren. Die konzentrierte Form der Novelle entsprach … in hohem Maß der Forderung der Objektivität (G. Keller, Th. Storm, C.F. Meyer); ihren großen Erfolg verdankte sie aber auch der Entwicklung des Buchmarkts (zahlreiche neue Zeitschriften; Familienblatt, Feuilleton).
Volker Meid: Sachwörterbuch zur Deutschen Literatur, Reclam, [Jahr ???], S. 898, gekürzt

Theodor Fontane über Realismus und Romane

Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus. Die Ärzte verwerfen alle Schlüsse und Kombinationen, sie wollen Erfahrungen; die Politiker (aller Parteien) richten ihr Auge auf das wirkliche Bedürfnis und verschließen ihre Vortrefflichkeitsschablonen ins Pult … die Welt ist des Spekulierens müde und verlangt nach jener „frischen grünen Weide”, die so nahe lag und doch so fern. Dieser Realismus unserer Zeit findet in der Kunst nicht nur sein entscheidenstes Echo, sondern äußert sich vielleicht auf keinem Gebiet unseres Lebens so augenscheinlich wie in ihr. […] Unsere moderne Richtung ist … die Wiedergenesung eines Kranken, die nicht ausbleiben konnte. … Der unnatürlichen Geschraubtheit Gottscheds mußte, nach einem ewigen Gesetz, der schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus Lessings folgen, und der blühende Unsinn, der während der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts sich aus verlogener Sentimentalität und gedankenlosem Bilderwust entwickelt hatte, mußte als notwendige Reaktion eine Periode ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstandes nach sich ziehen, von der wir kühn behaupten: sie ist da.
Th. Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 3/1, Hanser Verlag, 1969, S. 236 ff

Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregungen geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen lassen, er soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluss aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte. klärte, belehrte. […] Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selbst angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von uns unsere Eltern noch erzählten.
a.a.O., S.316 f

Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so dass wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie manche Träume sich unserer mit gleicher Gewalt bemächtigen wie die Wirklichkeit. ... darauf kommt es an, dass wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und dass zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist, als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist.
a.a.0., S. 568 f

Anmerkung: Die „verklärende Aufgabe der Kunst" ist im Verständnis Fontanes gleichbedeutend mit 'erklärend', 'klarstellend' und 'verdeutlichend'. In diesem Sinne dient der Realismus z.B. im Roman Effi BriestWikipedia-logo.png auch der Verdeutlichung gesellschaftlicher Zwänge, unter denen die Protagonisten stehen und denen sie nicht zu entkommen vermögen.


Weblinks